Doch je länger er sich unterhielt...

15. Juni 2025

Der Frühling zeigte sich in aller Schönheit. Die Kirschbäume breiteten ihre ganze Blütenpracht der Welt zur Schau. Junge und alte Paare blickten Händchen haltend auf den schimmernden, dunkelblauen See. Kleine Kinder spielten auf dem Rasen davor Fussball und kreischten jedes Mal, wenn ein Tor geschossen wurde. Freunde assen zusammen an den Tischen ihr Picknick und lachten über Witze. Unter der Menge erkannte er Freunde aus seiner alten Schule. Sie schienen nichts zu tun, trotzdem hatten sie alle fröhliche Gesichter.

All dies sah Leo, als er aus dem Fenster schaute - kurz nachdem ihm seine Mutter die Spielkonsole aus der Hand gerissen hatte. Alles draussen wirkte so lebendig und doch fühlte er sich drinnen so einsam. Warum sollte er auch nicht dort sein, vielleicht bei seinen Freunden aus der alten Schule, die er schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte?

Seine Sehnsucht trieb ihn dorthin, wo das Treiben an lebendigsten schien: mitten ins Grün. Leo packte seine Jacke, die er eigentlich gar nicht benötigte, und trat hinaus in die Gasse. Die lachende Sonne im Himmel zauberte Leo ein Lächeln ins Gesicht. Er war jetzt fest entschlossen, den Tag in vollen Zügen draussen zu geniessen. Er zog die Jacke aus und band sie um seine Taille.

Leo trat in den Park. Von unten war das Grün noch beeindruckender.  Er trottete gemächlich dahin, als eine Hand auf seiner Schulter klopfte.  "Hey, Leo, bist du das?"

Leo drehte sich um und erkannte Lukas. "Ah, Lukas, geht's gut?"

Lukas war früher, als er noch in seine alte Schule ging, in der Parallelklasse gewesen. An ein spezielles Ereignis mit Lukas konnte er sich gar nicht mehr erinnern, so weit in der Vergangenheit lag ihre Freundschaft. Viel mehr Zeit für solche Überlegungen blieb aber nicht mehr übrig, denn seine Kollegen begannen schon, über seine neue Frisur Witze zu reissen. Leo setzte sich also zu ihnen und konterte pointiert mit anderen Witzen. Eine Weile lang fühlte sich Leo pudelwohl - genau wie damals. Witze, die als Tadel gemeint waren.
Doch je länger er sich mit den anderen unterhielt, desto mehr spürte er es. Er war anders geworden. Seine alte Freunde redeten über Pausenklatsch, den er nicht mehr kannte, lachten über Memes, die er alles andere als lustig fand, schmiedeten Pläne für Partys, zu denen er nie eingeladen worden war. In diesem Moment zog einer das Handy hervor, tippte kurz drauf und überreichte es Leo: "Erinnerst du dich noch, als du da probiert hast, mit dem Mädchen zu flirten? Wir lachen noch heute darüber!"

Er hatte nur ein vages Bild von diesem Erlebnis in seinem Kopf, denn er hatte seit Jahren nicht mehr über die Peinlichkeit gedacht. "Ja, klar", ertönte es aus seinem Mund, darüber weiterreden wollte er aber nicht. Ein unangenehmes Schweigen überkam die Gruppe.

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Schliesslich standen seine alten Freunde auf. Sie wollten zum Kiosk gehen, um sich Glaces zu besorgen. Niemand fragte Leo, ob er auch mitkommen wolle.

Leo erhob sich langsam. "Ich glaube, ich geh mal langsam", sagte er mit leise.

"Wir sehen uns schon bald wieder, ja?", rief Lukas.

"Ja", log Leo mit einem traurigen Blick.

So trennten sich die Wege von Leo und seinen alten Freunden. Leo ging denselben Weg zurück, den er gekommen war. Die Sonne brannte immer noch und der Duft von den Kirschblüten war noch stärker als vorher.

Zuhause angekommen, fragte er sich, ob es je wieder so sein könnte wie früher - und ob er das überhaupt noch wollte.

Leo legte die Jacke an den Kleiderbügel und wurde nachdenklich. Draussen ging das Leben weiter, und drinnen war es komplett still.